Soziale Proteste in China

Auf dem Acker liegen Polizeihelme, Polizeischilder und acht Leichen, vier davon sind verbrannt. Drumherum stehen Bauern mit Holzstöcken und Sicheln in der Hand, ihre Gesichter spiegeln Hass, Wut und Angst wider.

Dies ist leider keine Filmszene, sondern die Realität im Kreis Jinning in der südchinesischen Provinz Yunnan. Mitte Oktober 2014 gab die lokale Regierung bekannt, dass es bei Demonstrationen gegen ein geplantes Logistikzentrum zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei. Dorfbewohner hätten Mitarbeiter des Bauprojekts mit Benzin übergossen und angezündet. Augenzeugen berichten dagegen, dass die Arbeiter durch fehlgeleitete Molotow-Cocktails ums Leben gekommen seien.

Jedes Jahr kommt es in China zu rund 100 000 Massenprotesten. Die häufigste Ursache sind Streitigkeiten um Landnutzungsrechte. Die Verpachtung von Land ist inzwischen eine der wichtigsten Einnahmequellen für Lokalregierungen. Diese haben die Macht, im Namen des „öffentlichen Interesses“ Landbesitz von Bauern zu beschlagnahmen und die Höhe der Entschädigungszahlungen selbst festzulegen. Auch die Stadtbewohner haben keine Scheu mehr vor Konflikten, um ihre Interessen gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Sie protestierten gegen geplante Chemiefabriken oder Müllverbrennungsanlagen, die neben ihren neu erworbenen Eigentumswohnungen entstehen sollen. Durch soziale Medien ist Chinas neue Mittelschicht innerhalb kurzer Zeit in der Lage, Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmern zu organisieren.

Die zweithäufigste Ursache für Proteste sind Arbeitskonflikte. Besonders in südlichen Provinzen gelingt es der besser gebildeten zweiten Generation von Wanderarbeitern immer wieder, Fabrikchefs durch Streiks unter Druck zu setzen. Eigens bestimmte Vertreter verhandeln an den staatlichen Gewerkschaften vorbei über bessere Arbeitsbedingungen. Lokale Regierungen wollen um jeden Preis soziale Stabilität wiederherstellen: Mal versuchen sie Proteste zu schlichten, mal setzen sie Polizei gegen streikende Arbeiter ein.
Seit den neunziger Jahren hat sich dank des höheren Bildungsniveaus und vermehrten Privateigentums ein neues, bislang nie da gewesenes Rechtsbewusstsein in der chinesischen Gesellschaft entwickelt. Immer mehr Bürger fordern Schutz- und Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Diese Proteste verfolgen in der Regel konkrete Interessen und keine abstrakten politischen Ziele. Aber sie setzen die politische Führung unter Druck, sind sie doch Ausdruck von Unzufriedenheit, und sie fordern die Legitimität der Kommunistischen Partei heraus, die inzwischen nur noch auf Wohlstandsversprechen gebaut ist. Sollte Chinas Wirtschaft ernsthaft ins Wanken geraten, drohen die sozialen Proteste außer Kontrolle zu geraten.

Zhu Yi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei MERICS.

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